Sonntag, 10. Januar 2016

Die Kölner Silvesternacht und was wir jetzt tun können

Ich bin Kölnerin, Frau, Mutter einer 16-jährigen Tochter, Leiterin einer Musikschule, Kommunikations- und Verhaltenstrainerin, Selbstbehauptungstrainerin, Lebensgefährtin eines Polizisten, Dozentin in der Ausbildung für Polizisten, Referentin für Prävention gegen sexuellen Missbrauch, …   und ich bin entsetzt.

Entsetzt über das, was sich an Silvester in Köln ereignet hat und entsetzt über das, was seitdem in den sozialen Netzwerken und in der Presse zu hören und zu lesen ist.
Das fängt bei hetzerischen Kommentaren an und endet in einer Verherrlichung einer früheren, vermeintlich sicheren Zeit. 


Ernst?!!! Ich weiß ja nicht in welcher Welt andere so leben…in meiner Erinnerung konnte man zu keiner Zeit, weder in den 20ern, 70ern, 90er - auch nicht im Mittelalter als Frau mit nacktem Hintern über die Straße gehen, ohne belästigt zu werden. Und belästigt zu werden ist in dem Zusammenhang noch die harmlose Form.

Weder Verklärung noch Schuldzuweisung oder gar Hetze helfen den Opfern oder tragen zur Aufklärung bei. Im Gegenteil: wir torkeln durch sich überschlagende Pressemitteilungen und anstatt mehr Klarheit zu gewinnen, verlieren wir mehr und mehr den Durchblick.

Genauso wichtig, wie die Aufklärung der Vorfälle von Silvester, ist es, aufmerksam zu sein, was gerade unserer Gesellschaft geschieht. Das laute Getöse von den eigenen Ohren fernzuhalten und besonnen zu handeln. 

In der ganzen Hysterie gibt es auch positive Aspekte:

  •      Eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Belästigungen von Frauen. Nicht nur in der Theorie, sondern ganz real.

Gerade am ersten Wochenende nach dem Schock ist die Aufmerksamkeit von Außenstehenden und die Bereitschaft einzugreifen, deutlich höher. Auch wenn diese Beobachtung einen faden Beigeschmack hat – oder anders gesagt - eine Augenklappe: südländisch aussehende Männer geraten schneller ins Visier (während die anderen munter weitermachen) und die kollektive Wut führt schnell zu unverhältnismäßigen Reaktionen. Zwei junge Männer, die auf der Wache nach den Voraussetzungen für einen kleinen Waffenschein fragen, um sich und andere zu schützen, beunruhigen mich eher. Ebenso wie die Meldung, dass in Köln Pfefferspray ausverkauft ist.

  •      Eine politische und gesellschaftliche Diskussion, die hoffentlich zu einem Wertewandel und zu Konsequenzen führt. Sowohl, was die Arbeitsbe- und auslastung von Polizisten und Polizistinnen betrifft, als auch die Wertigkeit von Übergriffen an Frauen.


Wenn sich herausstellt, dass der Raub des Handys schwerer bestraft wird, als die sexuelle Belästigung. Die wird vor Gericht häufig unter dem Begriff der Beleidigung mit einer Geldstrafe zur Wiedergutmachung verhandelt. Das ist kein schlechter Witz, sondern Realität. Für betroffene Frauen ist das ein Schlag ins Gesicht. Jede Frau darf sich mal mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass man ihr für 50€ an den Busen fassen darf. Das stößt bitter auf, in der Diskussion, ob es sich um Raub oder sexuell motivierte Straftaten gehandelt hat.

  •      Ein Überdenken des eigenen Selbstverständnisses und der Wehrhaftigkeit von Frauen.


Im Moment wird ja die emanzipierte, europäische Frau als Wert sehr hoch gesehen. Doch wie zeigt sich Emanzipation häufig und vor allem unter dem sexuellen Blickwinkel?


Wer sich mal abends in Clubs (früher Disko) umhört, vernimmt Anmachsprüche von soweit unterhalb der Gürtellinie -  da wird Frau Ü30 richtig übel. Frau ist heute jederzeit bereit und vor allem willig. So wird es zumindest suggeriert entsprechend gehandelt. Frauen, die sich darüber empören, dass man in ihrer Gegenwart anzügliche Witze macht, gelten, im Gegensatz zu früher, nicht als züchtig und schamhaft (genauso falsch), sondern als zickig und sie sollen „…sich mal nicht so anstellen“.

Gleichberechtigung bedeutet für mich nicht, dass ich mich über meine Empfindungen hinwegsetze und taub gegenüber Verunglimpfungen werde, damit ich mich auf Augenhöhe mit einer derben Männerrunde befinde.


Emanzipation bedeutet für mich nicht, dass, nachdem unser Keuschheitsgürtel aufgeschlossen wurde und wir uns frei überall bewegen dürfen, ich mich ständig lustvoll und sexy fühlen muss.

Und im Übrigen, wenn ich als Frau abends alleine ausgehe, dann bin ich zu keiner Zeit, weder früher noch heute eine geile Schlampe. Früher galten Frauen, die ohne Begleitung abends ausgingen als moralisch verwerflich. Heute hat sich an diesem Blickwinkel nicht viel geändert. Frauen, die nachts allein rausgehen, wollen nicht einfach nur Spaß haben   - nein – ihnen wird unterstellt, notgeil zu sein und sind sie dann auch noch entsprechend angezogen, …

Nein, ich meine nicht, dass Frauen bei Übergriffen selbst schuld sind!! Sie sollen so sich kleiden dürfen, wie sie wollen mit dem Bewusstsein darüber, wie sie wirken wollen und welchen Herausforderungen sie damit begegnen.

Überspitzt gesagt: unser jeckes Mädche, das mit nacktem Hintern (oder zumindest fast nackt) über den Neumarkt geht, ist hoffentlich selber nüchtern genug, um noch was mitzukriegen und kann sich effektiv wehren, wenn ein Typ sie begrapscht oder sonst wie blöd anmacht und sie das NICHT will.


Die Silvesternacht für die betroffenen Frauen eine traumatisierende Erfahrung und ist mit Nichts zu vergleichen, was wir sonst so kennen. Wir anderen sollten bei allem Mitgefühl und ohne Schuldzuweisung auf Männer mit patriarchalisch, machohaftem Frauenbild, uns die Zeit nehmen, unser eigenes Selbst- und Frauenbild zu überdenken.

Wir könnten die Zeit nutzen, um wieder ein Feingefühl zu entwickeln. Denn das gehört zu Stärke und Selbstbewusstsein dazu. Ebenso wie das Wissen, wie ich mich notfalls zur Wehr setze, ohne mich selbst zu verletzen. - Pfefferspray birgt übrigens ein hohes Maß an Verletzungsrisiko, ebenso wie andere Waffen. Schnell werden die von geübten Tätern gegen das Opfer selbst eingesetzt.

Wir sind überrascht worden, befinden uns noch in der Schockstarre, in der wir vor lauter „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ hin und hergerissen sind, nicht wissen, was wir nun tun können.

Im Selbstbehauptungstraining erfolgt mit dem lauten Aufschrei die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit.
Voraussetzung ist vor allem eins -  Abstand (übrigens mehr als eine Armlänge). Damit wir nicht in Stressreaktionen verfallen. Die bieten nämlich nur eine begrenzte Auswahl aus Angriff, Flucht oder Totstellen. Jede Reaktion mit hohem Verletzungsrisiko. 

Handlungsfähigkeit bedeutet, wahrzunehmen, zu entscheiden und entsprechend angemessen zu agieren.

Stellen wir also unsere Handlungsfähigkeit wieder her.
Nutzen wir die Pause nach dem Aufschrei.
Jeder in seinem Bereich. Die Politik, die Polizei, die Gesellschaft und jede(r) Einzelne. 

Nehmen wir Abstand vom lauten Getöse, das unsere eigenen Gedanken übertönt.